Roel Dieltiens zu seiner Aufführung Die Kunst der Fuge:
Es war schon lange mein Traum, dieses eher konzeptionelle Werk auf das Konzertpodium zu bringen. Bach zeigt darin, wie man Fugen und Kanons, also streng kontrapunktische Formen, schreibt. Das Grundthema steht in d-Moll, genau wie auch die gesamte Sammlung: Alle Fugen und Kanons in d-Moll!
Eigentlich ist so etwas, also nur Stücke derselben Tonart, für ein Publikum nicht sehr interessant; so stellt ein Musiker seine Programme nicht zusammen. Hier gibt es nun aber keinen anderen Weg, und wir gehen ihn. Dabei haben wir die Reihenfolge der Stücke (wie sie sich im Erstdruck von 1751 findet) geändert, so dass sich eine schöne Abwechslung in der Art der Themen und Fugen ergibt. Bach verwendet viele vom originalen Thema abgeleitete Themenvarianten, denn man kann damit einzigartige Dinge machen. Diese möchte ich ans Licht bringen. Aus dem gleichen Grund sind die Kanons über den ganzen Zyklus verteilt.
Wenn man an Bachs Fugen denkt, so denkt man oft auch an angestrengt gerunzelte Stirnen und ernste Musik. Und genau so ist es hier auch! Sie ist theoretisch und äusserst rational gebaut, und es ist genial, dass jemand mit dem Kontrapunkt so virtuos umgehen kann. Andererseits ist dies aber einfach auch fantastisch schöne Musik!
Die Kunst der Fuge ist durchaus auf dem Cembalo oder der Orgel spielbar, aber dann hat man eineinhalb Stunden lang die gleichen Klangfarben. Mein Ensemble besteht aus sechs Musiker*innen, die jeweils mindestens zwei verschiedene Instrumente spielen, denn das bringt Farbe und Abwechslung in die Musik.
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Fragen über Fragen umgeben Die Kunst der Fuge, das Sammelwerk von Fugen und Kanons, das Johann Sebastian Bach (1685–1750) wohl in den Jahren 1739 bis 42 komponierte – und die jeweilige Beantwortung dieser Fragen führt zu einem immer wieder anderen Werk, oder besser: zu einem anderen Werkcharakter.
Bach komponierte die Sammlung zur gleichen Zeit wie das Wohltemperierte Clavier II und die Goldberg-Variationen. Während diese Kompositionen aber durch ihre Vielfalt geprägt sind, konzentriert sich der Komponist hier nun – wie der Titel sagt – auf einen einzigen Aspekt seiner Musik: auf die Fuge (und den Kanon).
Bachs Manuskript enthält zwölf Fugen (hier Contrapunctus genannt) und zwei Kanons; es trägt den Titel (nicht in Bachs Schrift) Die Kunst der Fuga d. Sig. Joh. Seb. Bach. Gegen Ende des Jahrzehnts fasst Bach den Entschluss, das Werk zu veröffentlichen; er überarbeitet die bisherigen Stücke und fügt weitere Fugen und Kanons hinzu. Doch anderes kommt dem Komponisten dazwischen – so das Credo, der bisher noch fehlende Teil der h-Moll Messe –, aber auch Krankheit und schliesslich 1750 der Tod.
1751 erscheint der Druck trotzdem, herausgegeben von Bachs Schülern. Anscheinend verstanden sie aber seine Intentionen nicht immer, und so wurde etwa eine Fuge gleich doppelt gedruckt. Welche Quelle ist also bei einer Aufführung oder Aufnahme zu bevorzugen? Keine, weder das Manuskript noch der Druck, enthält alle Stücke des Werkzyklus, auch ist die Reihenfolge nicht immer die gleiche. Ausserdem gibt es noch drei Beilagen mit weiteren Stücken, darunter auch eine unvollendete Fuga a 3 soggetti – gehören diese zum Werkzyklus? Kann man die Stücke frei zusammenstellen oder soll man sich entweder an das Manuskript oder an den Druck halten?
Und für welche(s) Instrument(e) ist denn die Musik eigentlich bestimmt? Bach macht dazu (fast) keine Angaben; allerdings sind die Stücke auf einem Cembalo spielbar. Seit jedoch Wilhelm Graeser 1927 die Kunst der Fuge in einer instrumentierten Fassung vorlegte, sind der kreativen Fantasie der Ausführenden keine Grenzen mehr gesetzt. So erklingt das Werk mal als Streichquartett oder Bläserquintett, mal auf der Orgel oder dem modernen Flügel, oder dann – wie bei Roel Dieltiens – in einer eigenen Fassung für kleines Ensemble. Alles gleichermassen legitim?
Die meisten Aufführungen oder Einspielungen der Kunst der Fuge bieten heute 20 Stücke: 14 Fugen (davon zwei in je zwei verschieden Gestaltungen als Spiegelfugen) sowie vier Kanons, und Roel Dieltiens schliesst darüber hinaus noch den alternativen Canon al roverscio et per augmentationem mit ein.
Und um welche Fugen-Künste geht es denn hier nun? Bach hat in seinen Werken natürlich schon früher Dutzende von Fugen miteingeschlossen, aber hier treibt er das Verfahren auf eine einsame Spitze: Er beginnt mit einfachen Fugen mit nur einem Thema, das in den (meist) vier Stimmen erscheint; er wechselt dann zu Fugen mit zwei und drei Themen (Doppel- und Tripelfugen), vergrössert oder verkleinert die Notenlängen einzelner Stimmen (Augmentation oder Diminution), kehrt die Intervalle und auch die Position der Stimmen um (Spiegelfuge) …, und das natürlich alles in einer durchwegs polyphonen Musiksprache, die keine Unterbrechung der Stimmführung und Freiheiten nur in den Zwischenspielen erlaubt.
Nicht ganz so bunt treibt es Bach in den vier durchwegs zweistimmigen Kanons – könnte man hörenderweise wenigstens meinen. Doch zeigt das Notenbild des Canon per Augmentationem Folgendes: Die Oberstimme beginnt den Kanon, dann folgt die zweite Stimme mit der gleichen Musik, aber in doppelten Notenlängen (augmentatio) und in Spiegelung (Gegenbewegung): Tonschritte nach oben gehen jetzt nach unten und umgekehrt (in contrario motu); in der Mitte des Stücks werden die Rollen vertauscht und die zweite Stimme beginnt zuerst …
Spätestens hier darf man skeptisch fragen: Ist das Ergebnis dieser kompositorischen Arbeit nun kunstvolle Musik oder kunstvolle Systematik? – Roel Dieltiens ist (heute einer unter vielen) überzeugt: Es ist fantastisch schöne Musik! Zu Bachs Lebzeiten waren von seiner Musik aber nicht alle gleichermassen begeistert, da der Komponist ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkle, so der Musikpublizist Johann Adolf Scheibe 1737; die Musik sei zu wenig natürlich.
Und ein letztes Problem: der Schluss der Kunst der Fuge. Weder in Bachs Manuskript noch in der Publikation von 1751 findet sich das Stück, das heute immer am Schluss des Werks steht: die Fuga a 3 soggetti. Sie ist in der Beilage 3 überliefert – und sie ist unvollendet. Carl Philipp Emanuel schrieb dazu: Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject [b–a–c–h] angebracht worden, ist der Verfasser gestorben. Davitt Moroney, Cembalist und Bachexperte, vertritt die Meinung, dass Bach diese Fuga schon immer als Teil des Zyklus, nämlich als Nr. 14, geplant hatte und dass er deshalb (nur) in diesem Stück seinen Namen erscheinen lässt, dessen numerisches Alphabet (b a c h = 2 plus 1 plus 3 plus 8) die Summe 14 ergibt …
Woran ist Bach bei diesem ambitionierten Schlussstück gescheitert? An seinem sich allgemein verschlechternden Gesundheitszustand, an der zunehmenden Erblindung, oder vielleicht doch an den kompositorischen Schwierigkeiten? Denn bald einmal stellten die Forscher fest, dass nach den 3 soggetti (Themen) des Fragments noch ein viertes erscheinen und mit ihnen kombiniert werden sollte: nämlich das Thema in der schlichten Originalgestalt des ersten Contrapunctus. Somit wäre dies eine Quadrupelfuge, die einzige des Zyklus, und damit krönender Abschluss des Werks geworden. (Und der Bachforscher Christoph Wolff ist der Ansicht, dass Bach das Stück vollendet habe, der Schluss aber nicht erhalten geblieben sei.)
Bachs unmittelbare Nachwelt vermochte dieses «Scheitern» nicht zu ertragen; so fügten die Herausgeber des Druckes dem Fragment noch einen Choral an: Wenn wir in höchsten Nöten sein / Vor Deinen Thron tret ich hiermit. Und in späteren Generationen gab es immer wieder Versuche, den letzten Contrapunctus zu vollenden. – Beides ist gewiss berührend, aber vielleicht noch berührender ist, wenn das Werk mit der Signatur b–a–c–h einfach abbricht.