16.30h St. Anna-Kapelle
«Fortuna desperata»
Zweiteiliges Konzert
Konzert I
Lieder vom Schicksal
Consort Mirabile

Anonym
Paris – Florenz – London
- Fortuna desperata – Fortuna desperata – Fortune esperee
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Johannes Martini (1440–1498)
- Fortuna disperata
Heinrich Isaac (ca. 1450–1517)
- Sancte Petre, ora pro nobis /
Fortuna disperata - Sanctus
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Ivana Kis (*1979)
- Fortuna Disperata
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Heinrich Isaac
- Fortuna desperata
Cabilliau (16. Jh.)
- Anima mea liquefacta est
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Bardia Charaf (*1982)
- Fortuna Disperata
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Anonym, Bologna
- Fortuna disperata
Anonym
- Fortuna disperata zibaldone
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Ludwig Senfl (ca. 1489/91–1543)
- Helena desiderio plena / Fortuna
- Virgo prudentissima / Fortuna
Consort Mirabile
Andrés Montilla-AcureroMarta Redaelli
Alice Boccafogli
Soledad Brondino
Isabella Mercuri
Thibault Viviani
consortmirabile.com
Fortuna desperata war das populärste italienische Lied des fünfzehnten Jahrhunderts und eines der beliebtesten Werke der Renaissance überhaupt. Es fand weite Verbreitung, wurde sowohl für Laute, Tasteninstrumente und Gamben bearbeitet und diente als Inspiration für sechs Messen und mindestens achtunddreissig weitere Vertonungen. Sogar noch im Jahr 2023 wurde eine bisher unbekannte Fassung aus dem fünfzehnten Jahrhundert wiederentdeckt.
Der ursprüngliche Text wurde in den 1470er Jahren in Florenz von einem anonymen Dichter verfasst. In den drei Strophen wird die ungerechte Behandlung einer Frau von hohem Rang durch die Göttin Fortuna beklagt: Grundlos wurde ihr Ruf beschmutzt und dadurch ihre gesellschaftliche Existenz zerstört. Die ursprünglich dreistimmige Vertonung, die in einem Manuskript Antoine Busnoys zugeschrieben wird, aber möglicherweise doch nicht von ihm stammt, erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als enorme Inspirationsquelle für zahlreiche neue Versionen. Einige Beispiele sollen zeigen, wie die Komponisten dabei verfuhren; die Stücke finden sich sowohl im ersten wie im zweiten Konzert.
In den drei Eröffnungsstücken des Konzerts erklingt die dreistimmige Version mit den ursprünglichen Stimmen Superius, Tenor und Bassus, denen aber jeweils eine neue Altus-Stimme hinzugefügt wird. Etwas anders verfährt die reizvolle dreistimmige Instrumentalvertonung, die Josquin zugeschrieben wird (aber leider wahrscheinlich nicht von ihm stammt): Sie behält den Superius und Tenor des Originals bei, ersetzt aber die tiefste Stimme durch einen neuen, lebhaften Bassus.
Andere Komponisten gehen diesen Weg noch weiter und verwenden nur eine einzige Stimme des Originals. In Jean Pinarols vierstimmiger Instrumentalvertonung wird die ursprüngliche Superius-Stimme nach unten in den Bassus transponiert, was vielleicht auch Fortunas Fähigkeit andeutet, das Höchste in die Tiefe zu stürzen. Johannes Martini verwendet in seinem vierstimmigen Stück drei neue Unterstimmen für ein lebhaftes imitatorisches Wechselspiel.
Eine weitere Technik besteht darin, die Fortuna-Melodie mit Vokalmusik zu verbinden: Heinrich Isaac kombiniert diese in seinem fünfstimmigen Sancte Petre, ora pro nobis / Fortuna disperata mit den Anrufungen der Heiligenlitanei – die Heiligen mögen gegen die willkürlichen Wendungen des Schicksals helfen. Gewagt geht es dagegen in der anonymen Fortuna disperata zibaldone zu und her: die unteren drei Stimmen bilden ein Quodlibet (zibaldone = Sammelsurium) von Ausschnitten aus Volksliedern voller zweideutiger Anspielungen.
Häufig wird die Fortuna-Melodie in neuen Kompositionen als Cantus firmus-Stimme verwendet. Um diese vorgegebene Stimme, meist im Tenor, herum ranken sich dann die neuen Stimmen. So im Kyrie aus Jacob Obrechts Missa Fortuna desperata oder in Heinrich Isaacs vierstimmigem Sanctus (das sich in keiner seiner Messen findet). Die Cantus firmus-Melodie kann dann wörtlich oder paraphrasiert vorkommen, etwa anstatt im Zweier- im Dreier-Takt oder mit verdoppelten Notenwerten.
Besonders häufig und fantasievoll verwendete Ludwig Senfl das Fortuna-Lied; er kombiniert es gern mit anderer bereits bestehender Musik: so mit dem Lied Es taget vor dem Walde, mit dem Fronleichnamshymnus Pange lingua (der als deutschsprachige Kontrafaktur mit dem Text Herr durch dein Blut erklingt), mit der Magnificat-Antiphon Virgo prudentissima oder mit der Choralmelodie Helena desiderio plena.
Dieses kunstvolle Verfahren hat natürlich seinen musikalischen Reiz, aber auch eine inhaltliche Aussage: In Es taget vor dem Walde mag die Fortuna-Melodie andeuten, dass sich die Liebenden bald trennen müssen. Anders dagegen in Herr durch dein Blut / Pange lingua / Fortuna: Hier fällt die Fortuna-Melodie vor dem Ende des Stücks weg, was den Sieg der göttlichen Macht über die unberechenbare Fortuna symbolisieren mag.
Nicht alle Fortuna-Kompositionen sind vollständig überliefert. So mussten etwa in Robertus Fabris Fortuna desperata, quae te dementia vertit? zwei Stimmen rekonstruiert werden, was 2022 Santo Militello (*1983) für das Consort Mirabile besorgte. Von daher ist der Schritt zu eigentlichen neuen Versionen nicht weit. Im ersten Konzert erklingen zwei von ihnen: das eine von der 1979 in Zagreb geborenen und heute in Israel lebenden Komponistin Ivana Kis, das andere von dem 1982 in Zürich geborenen und in der Schweiz arbeitenden Komponisten Bardia Charaf.
Der Kommentar basiert auf dem Text von Honey Meconi im CD-Booklet Fortuna – Old and New Versions of an Italian Song. (CD Prospero 104)