O magnum mysterium
et admirabile sacramentum,
ut animalia viderent Dominum natum,
iacentem in praesepio.
Beata Virgo, cujus viscera meruerunt
portare Dominum Iesum Christum.
Alleluia!
O grosses Geheimnis
und wunderbares Heiligtum,
dass Tiere den neugeborenen Herrn sehen,
wie er in der Krippe liegt.
Selige Jungfrau, deren Leib würdig war,
den Herrn Jesus Christus zu tragen.
Alleluja!
Zu den grossen Geheimnissen des christlichen Glaubens gehört das Weihnachtsgeschehen, die Geburt des Erlösers als Sohn einer Jungfrau – in einem Stall. Dennoch erscheint dieses Thema in der geistlichen Musik von Mittelalter und Renaissance anfänglich eher selten; erst ab etwa 1550, also in der Spätrenaissance, wird es prominent. Besonders häufig wird ein Ausschnitt aus der frühmorgendlichen Mattutin des Weihnachtstages vertont: O magnum mysterium. Etwas überraschend wird darin vor allem betont, dass es die Tiere im Stall sind, die den Erlöser als Erste erblicken.
In der ersten Hälfte des Programms von OCTOPLUS erscheint das Festivalthema Mysterium also inhaltlich, als Thema der vertonten Texte. Anders dann im mittleren Teil, wo die Musik selbst zum Geheimnis – oder besser: zum Rätsel – wird. Immer wieder einmal haben sich Komponisten einen Spass daraus gemacht, bei einem Werk nicht alle Stimmen zu notieren –, mit dem (vielleicht auch etwas schadenfrohen?) Hinweis, dass die fehlenden für die Aufführung zuerst noch erarbeitet werden müssen.
Eine einfache und allgemein bekannte Variante dieses musikalischen Rätsels ist der Kanon; auch bei Bruder Jakob ist ja nur eine Stimme notiert …
Etwas vertrackter ist allerdings die Gattung des Rätselkanons. Hier muss die Originalstimme meist etwas «manipuliert» werden, um zur zweiten Stimme zu werden, und das mittels Verfahren wie Umkehrung der Intervalle, Vergrösserung der Notenlängen oder mit dem sogenannten Krebs: die ursprüngliche Stimme wird dabei von hinten nach vorne, also von ihrem Schluss her zum Anfang gespielt, während die erste «normal» erklingt. Allerdings bleibt dieses Rätsel ein etwas privater Spass zwischen dem Komponisten und den Ausführenden – denn uns, den (nur) Zuhörenden, wird ja gleich schon die Lösung des Rätsels präsentiert.
Der Schluss des Konzerts bringt dann noch einen weiteren «mysteriösen» Aspekt der Nacht. Denn diese Tageshälfte kann ja auch in «modernen» Zeiten noch Geheimnisse und Rätsel aller Art bergen: Dunkelheit, Stille, Träume und in Antonio Vivaldis Concerto La Notte das spukhafte Treiben von Nachtgespenstern (fantasmi) …