Improvvisazione – Improvisation – Improvisación
16.00h
Corellis Cembalist – Bachs jüngster Schüler
Ensemble on a Ground (I)
17.00h
Zefiro spira
Gabriel Jublin Altus
Matthias Spaeter Laute
18.00h
Canzona – Partita – Chaconne
Ensemble on a Ground (II)
19.15h Apéro
20.15h
Ad Completorium –
Eine spanische Komplet
The Habsburg Project
Juan Díaz de Corcuera
Ivo Haun, Florencia Menconi, Jan Kuhar
Katharina Haun
Phillip Boyle
Lukas Frank
evasaladin.com
gabrieljublin.net
Corellis Cembalist – Bachs jüngster Schüler
Im ersten Teil des Konzerts von Ensemble on a Ground widmen sich die Cembalisten Leonard Schick und Matías Lanz dem Komponisten Bernardo Pasquini (1737–1710). Um 1700 genoss Pasquini in Italien einen unvergleichlichen Ruf als Cembalist und Pädagoge und galt als «Corellis Cembalist». Die wenigen Werke, die von ihm überliefert sind, werden diesem Ruf jedoch kaum gerecht. Fast ausschliesslich handelt es sich um Unterrichtsmaterial, woraus aber eine Werkgruppe heraussticht: die sogenannten Partimento-Bässe für ein oder zwei Cembali. Im Genre des Partimento wurde nur der Bass – mit Bezifferungen – notiert, und daraus hatte der Tastenspieler ein vollständiges, hörenswertes Stück zu entwickeln. Es ging also um weit mehr, als nur – wie sonst beim bezifferten Bass – einen mit den richtigen Akkorden versehenen Generalbass «auszusetzen». Leonard Schick und Matías Lanz präsentieren eine Auswahl von Pasquinis Partimenti für ein und zwei Cembali; dazu kommen weitere Solo- und Duo-Improvisationen, sowohl zusammen wie im Wechsel. Das Konzert wird mit einem Cembaloduett von Leonard Schick abgerundet, der sich in jahrelangem Studium einen so ausgeprägt «bachischen» Stil erarbeitet hat, dass man ihn geradezu als den jüngsten Bach-Schüler bezeichnen könnte.
Matías Lanz
Zefiro spira
Antonio Caprioli
- Quella bella e bianca mano
Bartolomeo Tromboncino
- Che debo far che mi consigli amore
Poi che volse la mia stella
Philippe Verdelot
- Madonna, per voi ardo
Jacques Arcadelt
- Si grande la pietà – Liuto solo
Gabriel Jublin & Matthias Spaeter
- Improvisation über Madonna, per voi ardo
***
Philippe Verdelot
- Madonna, il tuo bel viso
Josquin d’Ascanio
- In te Domine speravi
Francesco da Milano
- Ricercar – Liuto solo
Gabriel Jublin & Matthias Spaeter
- Improvisation über Voi ch’ascoltate in rime sparse
Philippe Verdelot
- Amor se d’hor in hor
- Fuggi, fuggi cor moi
***
Gabriel Jublin & Matthias Spaeter
- Improvisation über Quanto sia liet’ il giorno
Philippe Verdelot
- Quanto sia liet’ il giorno
- Donna leggiadre e bella
- Madonna, qual certezza
Gabriel Jublin & Matthias Spaeter
- Improvisation über Zefiro spira
Die Werke, die wir in diesem Programm präsentieren, entstanden im Italien der Renaissance. Sie sind einerseits in Handschriften überliefert, gingen andererseits aber, da sie improvisiert wurden, grossenteils «verloren» – mit einigen Ausnahmen. Sie alle dokumentieren die Praxis des cantar al liuto, des Singens mit Lautenbegleitung. Neben (notierten) Kompositionen der beiden wichtigsten Komponisten, Bartolomeo Tromboncino und Philippe Verdelot, erklingen im Konzert auch Improvisationen. Sie sind von der alten Praxis des all’improvviso inspiriert, also von der improvisierten, spontanen Gestaltung von Melodien und Harmonien.
Unsere Improvisationen zielen darauf, getreu der Prosodie der italienischen Gedichte des 16. Jahrhunderts zu folgen, so wie es auch Verdelot getan hat. Sie stehen also in der Tradition der madrigali a voce sola von Verdelot und Tromboncino, stellen aber gleichzeitig auch einen Bruch mit ihr dar, insofern sie klanglich manchmal in die Moderne schweifen.
Zwei besondere Beispiele des Programms: Unsere Version von Voi ch’ascoltate basiert (nur) auf dem Text von Francesco Petrarcas Sonett, während Zefiro spira eine durchwegs freie Improvisation ist, deren Titel sich auf das gleichnamige Gedicht von Chiara Matraini (1514–1597) bezieht. Das erweiterte Programm findet sich auch auf unserer CD Zefiro spira (Claves Records).
Gabriel Jublin
***
An den Höfen von Mantua und Ferrara entwickelt sich schon vor Mitte des 15. Jahrhunderts die Frottola, ein meist vierstimmiges, aber eher einfaches Vokalwerk, durchaus auch mit volkstümlichem Charakter. Viele dieser Stücke stammen von Marchetto Cara und Bartolomeo Tromboncino (1470–ca. 1535), die beide in Mantua tätig waren. Aber auch andere Komponisten griffen diesen Stil auf, so Josquin Desprez, der im Konzertprogramm italianisiert als Josquin d’Ascanio erscheint. (N.B.: Es ist neuerdings umstritten, ob mit Josquin d’Ascanio wirklich Josquin Desprez gemeint sein und ob In te Domine speravi von Josquin Desprez stammen kann).
Ein Genre für vier Stimmen also – doch scheint es üblich gewesen zu sein, die Stücke auch nur mit einer Solostimme und Lautenbegleitung aufzuführen, meist von den Komponisten selbst, die sangen und sich selbst begleiteten, ganz ähnlich wie die heutigen «singer-songwriter».
Als die Frottola nach 1500 allmählich ihrem Ende entgegen geht, blüht fast gleichzeitig ein neues Genre auf: 1530 erscheint in Rom ein Druck mit Madrigali de diversi musici. Hier findet sich zum ersten Mal im Titel eines Drucks der Begriff Madrigal, und dieses Genre wird in fast ganz Europa Furore machen.
Die meisten Stücke der Publikation von 1530 stammen von Philippe Verdelot (1480/85–1527/30), einem französischen Musiker, der sich in Italien niederliess; zusammen mit Jacques Arcadelt und Costanzo Festa gilt er als einer der Schöpfer des Madrigalstils. Das Madrigal ist, stärker noch als die Frottola, als mehrstimmiges Genre konzipiert; doch schon 1536 erscheint in Venedig ein Druck mit Madrigali di Verdeletto da cantare et sonare nel lauto – Verdelots Madrigale als («einstimmiges») Lautenlied also. Eingerichtet hat diese Fassung erstaunlicherweise Messer Adriano, der renommierte Kapellmeister Adrian Willaert von San Marco und selbst ein Meister der Mehrstimmigkeit. Ob er sich zur Abwechslung mal etwas Einfacheres wünschte …?
Canzona – Partita – Chaconne
Im zweiten Teil des Konzerts von Ensemble on a Ground stehen, nach dem Cembalo, die anderen Instrumente des Ensembles im Mittelpunkt: Violine (Eva Saladin) und Traversflöte (Eleonora Biscevic). Diese stellen sich in Solo-, Duo- und Tutti-Improvisationen vor sowie in verschiedenen Formen und Genres: von einer frühbarocken italienischen Canzona für Violine solo bis zur hochbarocken deutschen Choralpartita für Flöte und Cembalo, von völlig freien Solo-Improvisationen bis zu Stücken, in denen ein Melodieinstrument über einen festgelegten Satz des Tasteninstruments improvisiert oder – umgekehrt – eine schlichte Choralmelodie der Flöte dem improvisierenden Cembalo als Gerüst dient. Natürlich werden sich dabei die Grenzen zwischen Improvisation und Komposition durchaus verwischen: Eine Triosonate von Leonard Schick ist vollständig auskomponiert, während in einer grosse Chaconne en rondeau die Instrumente sich in den Couplets frei entfalten können und sich im auskomponierten Refrain vereinen.
Matías Lanz
Ad Completorium – Eine spanische Komplet
Antonio de Cabezón
- Tiento de quinto tono
Versus Converte nos Deus
Versus Deus in adjutorium
Antiphona / Entonación Miserere mihi Domine - Psalmi I–IV
Psalmus I Cum invocarem
Gregorianisch und Improvisation im Stil von Antonio de Cabezón
Psalmus II In te Domine speravi
Gregorianisch, Fabordón und einzelne Verse von Diego Ortiz
Psalmus III Qui habitat
Gregorianisch, Fabordón und einzelne Verse von Claudin de Sermisy
Psalmus IV Ecce nunc
Antiphona Miserere mihi Domine
Francisco Guerrero
- Dulcissima Maria (instrumental)
Diego Ortiz
- Hymnus Te lucis ante terminum
- Capitulum Tu autem in nobis es
- Responsorium In manus tuas
- Versus Custodi nos domine
Francisco Guerrero
- Claros y hermosos ojos (instrumental)
- Antiphona / Entonación Salva nos Domine
Diego Ortiz
- Canticum Simeonis Nunc dimittis
- Antiphona / Entonación Salva nos Domine
- Oratio Vista quaesumus, Domine
- Benedicamus Domino
Antonio de Cabezón
- Tiento de primer tono
Francisco Guerrero
- Motetus Ave virgo sanctissima
Die Improvisation war seit den ersten mehrstimmigen Werken des Mittelalters ein zentrales Gestaltungsmittel der westlichen Musik. Anfänglich wurde die mehrstimmige Musik Europas sogar ganz oder grossenteils improvisiert. Durch das gesamte Mittelalter, die Renaissance und den Barock hindurch überlebte diese Praxis in verschiedenen Formen und Zusammenhängen, vor allem in der Liturgie. Erst im 19. Jahrhundert kam die Improvisation ausser Gebrauch und verschwand zugunsten einer vollständig auskomponierten Musik.
Das sollte seine Folgen haben, gerade auch für die Wiederentdeckung der «Alten Musik». Zwei zentrale Genres der europäischen Musik, der einstimmige Gregorianische Choral und die mehrstimmige Musik (Polyphonie) des 16. Jahrhunderts, lebten seit ihrer Entstehung ohne Unterbrechung fort. So sang und singt die Capella Sistina des Papstes im Gottesdienst Musik des 16. Jahrhunderts durchgehend bis ins 20. und 21. Jahrhundert. Andererseits organisierte eine Institution wie The Academy of Ancient Music, die in London zwischen 1726 und 1802 tätig war, Konzerte mit Werken von Victoria, Palestrina oder Byrd. Bei dieser Aufführungsweise wurde das ursprünglich liturgische Repertoire («Kirchenmusik») in weltliches Konzertrepertoire umgewandelt. Im Kontext des Konzerts wurde die Musik jedoch der jeweiligen zeitgenössischen Aufführungspraxis angepasst und so ihres einstigen Klangumfelds beraubt. Die Musizierenden hatten keinen Bezug mehr zum ursprünglichen Kontext der Musik und zu den nicht aufgeschriebenen Parametern der Werke.
Erst mit der Geburt der historisierenden Interpretation im 20. Jahrhundert erwachte der Wunsch, nebst den Werken auch die einstige Aufführungspraxis wieder zu beleben. Dabei hielt man sich anfänglich eng an die schriftlichen Quellen, ohne den ehemaligen Kontext der Musik oder die nicht-aufgeschriebenen Traditionen zu beachten. In der Liturgie stand die mehrstimmige Musik jedoch nicht für sich, sondern in einem Kontext: sie wurde stets mit improvisierten Praktiken verbunden. Die im Konzert zu hörenden Werke von Francisco Guerrero oder Diego Ortiz hatten in der Liturgie des 16. Jahrhunderts nicht nur eine Verbindung mit dem einstimmigen Gregorianischen Choral (auf den sie sich oft beziehen), sondern auch mit einer improvisierten bzw. extemporisierten Mehrstimmigkeit.
Diese extemporisierte Mehrstimmigkeit ist also nicht eine freie Improvisation im Sinne etwa des Free Jazz, wie dies der Begriff «improvisiert» uns heute suggeriert. Sie basiert vielmehr auf den Melodien des Gregorianischen Chorals. Nach bestimmten Regeln, die die Ausführenden kennen und zum Teil auswendig lernen müssen, werden diesen Melodien weitere Stimmen als sogenannter «Kontrapunkt» hinzugefügt. Dies setzt Absprachen zwischen den Musizierenden voraus, was nur aufgrund einer gemeinsamen Musizierpraxis funktionieren kann.
Die eingehende Beschäftigung mit diesem improvisierten bzw. extemporisierten Kontrapunkt ist erst neueren Datums. Sie zielt darauf ab, die verschiedenen Klänge der Liturgie des 16. Jahrhunderts wieder zusammenzuführen und so den musikalischen «Raum» zu füllen, der bisher zwar aus den historischen Dokumenten bekannt, in den Aufführungen jedoch selten zu hören war.
Spanische Quellen geben die konkretesten Hinweise, wie damals improvisiert wurde – deshalb eine spanische Komplet; die Komplet ist der letzte Gottesdienst der Mönche vor der Nachtruhe. Das Konzert versucht jedoch nicht, eine genaue liturgische Feier des 16. Jahrhunderts zu rekonstruieren; es bietet vielmehr Beispiele möglicher Klänge, die im Kontext der Liturgie eines spanischen Klosters erklangen. Die Klangbeispiele reichen dabei vom einfachen einstimmigen Gregorianischen Choral bis hin zu komplexen mehrstimmigen Kompositionen. Sie schliessen verschiedene Formen des improvisierten Kontrapunkts ein: Fabordón*, also die vierstimmige Aussetzung (Harmonisierung) des Gregorianischen Chorals, und Accentus, einfache gregorianische Rezitationsformeln, die zum Beispiel in Gebeten verwendet wurden. So soll ein möglichst vielfältiges Bild der Klangwelt der spanischen Liturgie im 16. Jahrhundert entstehen.
Text: Juan Díaz de Corcuera
Übersetzung: Katharina Haun
*Fabordón / Fauxbourdon: die Harmonisierung des einstimmigen Gregorianischen Chorals mittels einer Folge von parallelen Akkorden. Der Fauxbourdon erscheint erstmals in der Missa Sante Jacobi (1426/28) von Guillaume Dufay. Die Postcommunio ist dort (nur) zweistimmig notiert: eine gregorianische Antiphon in der Oberstimme und darunter eine Tenorstimme. Dabei steht die Bemerkung: Wenn du eine dritte Stimme willst, so nimm die obere Melodie (Antiphon) und sing sie (Note für Note) von Anfang an eine Quart tiefer mit.