Improvvisazione – Improvisation – Improvisación (II)
Ad Completorium – Eine spanische Komplet
The Habsburg Project
Juan Díaz de CorcueraIvo Haun, Florencia Menconi, Jan Kuhar
Katharina Haun
Phillip Boyle
Lukas Frank
Antonio de Cabezón
- Tiento de quinto tono
Versus Converte nos Deus
Versus Deus in adjutorium
Antiphona / Entonación Miserere mihi Domine - Psalmi I–IV
Psalmus I Cum invocarem
Gregorianisch und Improvisation im Stil von Antonio de Cabezón
Psalmus II In te Domine speravi
Gregorianisch, Fabordón und einzelne Verse von Diego Ortiz
Psalmus III Qui habitat
Gregorianisch, Fabordón und einzelne Verse von Claudin de Sermisy
Psalmus IV Ecce nunc
Antiphona Miserere mihi Domine
Francisco Guerrero
- Dulcissima Maria (instrumental)
Diego Ortiz
- Hymnus Te lucis ante terminum
- Capitulum Tu autem in nobis es
- Responsorium In manus tuas
- Versus Custodi nos domine
Francisco Guerrero
- Claros y hermosos ojos (instrumental)
- Antiphona / Entonación Salva nos Domine
Diego Ortiz
- Canticum Simeonis Nunc dimittis
- Antiphona / Entonación Salva nos Domine
- Oratio Vista quaesumus, Domine
- Benedicamus Domino
Antonio de Cabezón
- Tiento de primer tono
Francisco Guerrero
- Motetus Ave virgo sanctissima
Die Improvisation war seit den ersten mehrstimmigen Werken des Mittelalters ein zentrales Gestaltungsmittel der westlichen Musik. Anfänglich wurde die mehrstimmige Musik Europas sogar ganz oder grossenteils improvisiert. Durch das gesamte Mittelalter, die Renaissance und den Barock hindurch überlebte diese Praxis in verschiedenen Formen und Zusammenhängen, vor allem in der Liturgie. Erst im 19. Jahrhundert kam die Improvisation ausser Gebrauch und verschwand zugunsten einer vollständig auskomponierten Musik.
Das sollte seine Folgen haben, gerade auch für die Wiederentdeckung der «Alten Musik». Zwei zentrale Genres der europäischen Musik, der einstimmige Gregorianische Choral und die mehrstimmige Musik (Polyphonie) des 16. Jahrhunderts, lebten seit ihrer Entstehung ohne Unterbrechung fort. So sang und singt die Capella Sistina des Papstes im Gottesdienst Musik des 16. Jahrhunderts durchgehend bis ins 20. und 21. Jahrhundert. Andererseits organisierte eine Institution wie The Academy of Ancient Music, die in London zwischen 1726 und 1802 tätig war, Konzerte mit Werken von Victoria, Palestrina oder Byrd. Bei dieser Aufführungsweise wurde das ursprünglich liturgische Repertoire («Kirchenmusik») in weltliches Konzertrepertoire umgewandelt. Im Kontext des Konzerts wurde die Musik jedoch der jeweiligen zeitgenössischen Aufführungspraxis angepasst und so ihres einstigen Klangumfelds beraubt. Die Musizierenden hatten keinen Bezug mehr zum ursprünglichen Kontext der Musik und zu den nicht aufgeschriebenen Parametern der Werke.
Erst mit der Geburt der historisierenden Interpretation im 20. Jahrhundert erwachte der Wunsch, nebst den Werken auch die einstige Aufführungspraxis wieder zu beleben. Dabei hielt man sich anfänglich eng an die schriftlichen Quellen, ohne den ehemaligen Kontext der Musik oder die nicht-aufgeschriebenen Traditionen zu beachten. In der Liturgie stand die mehrstimmige Musik jedoch nicht für sich, sondern in einem Kontext: sie wurde stets mit improvisierten Praktiken verbunden. Die im Konzert zu hörenden Werke von Francisco Guerrero oder Diego Ortiz hatten in der Liturgie des 16. Jahrhunderts nicht nur eine Verbindung mit dem einstimmigen Gregorianischen Choral (auf den sie sich oft beziehen), sondern auch mit einer improvisierten bzw. extemporisierten Mehrstimmigkeit.
Diese extemporisierte Mehrstimmigkeit ist also nicht eine freie Improvisation im Sinne etwa des Free Jazz, wie dies der Begriff «improvisiert» uns heute suggeriert. Sie basiert vielmehr auf den Melodien des Gregorianischen Chorals. Nach bestimmten Regeln, die die Ausführenden kennen und zum Teil auswendig lernen müssen, werden diesen Melodien weitere Stimmen als sogenannter «Kontrapunkt» hinzugefügt. Dies setzt Absprachen zwischen den Musizierenden voraus, was nur aufgrund einer gemeinsamen Musizierpraxis funktionieren kann.
Die eingehende Beschäftigung mit diesem improvisierten bzw. extemporisierten Kontrapunkt ist erst neueren Datums. Sie zielt darauf ab, die verschiedenen Klänge der Liturgie des 16. Jahrhunderts wieder zusammenzuführen und so den musikalischen «Raum» zu füllen, der bisher zwar aus den historischen Dokumenten bekannt, in den Aufführungen jedoch selten zu hören war.
Spanische Quellen geben die konkretesten Hinweise, wie damals improvisiert wurde – deshalb eine spanische Komplet; die Komplet ist der letzte Gottesdienst der Mönche vor der Nachtruhe. Das Konzert versucht jedoch nicht, eine genaue liturgische Feier des 16. Jahrhunderts zu rekonstruieren; es bietet vielmehr Beispiele möglicher Klänge, die im Kontext der Liturgie eines spanischen Klosters erklangen. Die Klangbeispiele reichen dabei vom einfachen einstimmigen Gregorianischen Choral bis hin zu komplexen mehrstimmigen Kompositionen. Sie schliessen verschiedene Formen des improvisierten Kontrapunkts ein: Fabordón*, also die vierstimmige Aussetzung (Harmonisierung) des Gregorianischen Chorals, und Accentus, einfache gregorianische Rezitationsformeln, die zum Beispiel in Gebeten verwendet wurden. So soll ein möglichst vielfältiges Bild der Klangwelt der spanischen Liturgie im 16. Jahrhundert entstehen.
Text: Juan Díaz de Corcuera
Übersetzung: Katharina Haun
*Fabordón / Fauxbourdon: die Harmonisierung des einstimmigen Gregorianischen Chorals mittels einer Folge von parallelen Akkorden. Der Fauxbourdon erscheint erstmals in der Missa Sante Jacobi (1426/28) von Guillaume Dufay. Die Postcommunio ist dort (nur) zweistimmig notiert: eine gregorianische Antiphon in der Oberstimme und darunter eine Tenorstimme. Dabei steht die Bemerkung: Wenn du eine dritte Stimme willst, so nimm die obere Melodie (Antiphon) und sing sie (Note für Note) von Anfang an eine Quart tiefer mit.