Fr 15.03.

19.30h Fraumünster

Zum dreihundertjährigen Jubiläum

Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion
(Fassung 1724)

Jakob Pilgram Evangelist
Christian Wagner Jesus & Bass-Arien
Shira Patchornik Sopran
Sara Mingardo Altus
Mirko Ludwig Tenor
Francesc Ortega Petrus
Guglielmo Buonsanti Pilatus

La Cetra
Barockorchester & Vokalensemble Basel

Andrea Marcon Leitung

lacetra.ch


Anfang April 1724 herrscht in Leipzig zwischen dem Thomaskantor und seinen Vorgesetzten nicht gerade eitel Harmonie. Bach hat angekündigt, am Karfreitag in der Thomaskirche eine Johannes-Passion aufzuführen; bereits werden die Textbücher dazu den Interessierten zugestellt. Darauf wird Bach ins Rathaus gerufen: ob er nicht wisse, dass dieses Jahr für den Karfreitagsgottesdienst die Nikolaikirche an der Reihe sei?!
Bach lenkt ein und verschickt – anscheinend (wiederum) ohne Rücksprache mit dem Rat – die etwas doppeldeutig formulierte Mitteilung, dass es von E. Hoch-Edlen und Hochweisen Rathe beliebet worden, dass die Aufführung künfftigen Freytag, geliebt es GOtt, in der Kirche zu St. Nicolai geschehen soll.
Und die Aufführung der Johannes-Passion am 7. April 1724 hat noch ein Nachspiel: Ende Mai wird Bach vom Superintendenten der Leipziger Kirchen zu einer Aussprache zitiert und wegen seiner Eigenmächtigkeiten getadelt. Bach gesteht seinen Fehler ein und bittet – etwas scheinheilig – darum, man werde ihm als einen frembden, so hiesiger Gewohnheiten nicht kundig, perdoniren. Künfftig wolle er … in dergleichen Dingen mit seinem Superintendenten communiciren – was ihm denn auch ernstlich anempfohlen wird.
Über Reaktionen des Leipziger Publikums auf das Werk selbst ist nichts bekannt, weder positiv noch negativ. Von heute aus gesehen – so der Musikwissenschafter Martin Geck* – sei die Passion aber gleichsam wie ein Komet in die damalige musikalische Landschaft gestürzt.
Und auch heute noch ist diese kometenhafte Einzigartigkeit des Werks direkt erfahrbar, so gleich im Eingangschor Herr, unser Herrscher. Dieser thematisiert nicht etwa das Leiden, sondern die Herrlichkeit des Gottessohnes. Ein rein instrumentaler Satz von sinfonischem Ausmass und hoher motivischer Dichte bildet die Einleitung und prägt «wortlos» die Grundaussage des Satzes. So hat man die Basslinie als die Stimme Gottvaters, die oft dissonanten Holzbläser als den leidenden Gottessohn und die wogenden Streichinstrumente als den Heiligen Geist interpretiert. In dieses komplexe instrumentale Gebilde fügt Bach dann den Chor Herr, unser Herrscher ein, der seinerseits ebenso ausgearbeitet und ausdrucksvoll ist.
Die dichtgearbeiteten Strukturen der Komposition finden ihr Gegengewicht in der Sinnenhaftigkeit der musikalischen Gestaltung. So verwendet Bach eine ungewöhnlich reiche Instrumentierung, die von Arie zu Arie wechselt. Und obwohl er bei seiner Anstellung versprechen musste, die Kirchenmusik nicht opernhaft oder theatralisch zu gestalten, tut er genau das immer wieder, am frappantesten wohl im dramatischen Mittelteil der Arie Der Held aus Juda mit seiner schmetternden Trompete. Im Arioso Mein Herz wird plastisch nicht nur das erregt klopfende Herz evoziert, sondern – wie schon im vorausgehenden Rezitativ – auch das Zerreissen des Vorhangs im Tempel und das Erdbeben. Affekte der Textdichtung setzt Bach mit den Mitteln der musikalischen Rhetorik in Klangstrukturen um, beispielsweise in der Arie Ach, mein Sinn, die von Trauer, Verzweiflung und Haltlosigkeit spricht: Sie wird einerseits von einem Lamento-Bass beherrscht, und andererseits finden die Motive der Streichinstrumente in einer Art von rhythmischer Verwirrung nie zusammen.
Offensichtlich ist ebenfalls, dass Bach auch im musikalischen Ablauf der Passion eine dramatische Gestaltung anzielt: Die Rezitative mit dem Evangeliumstext sind in ihrem Duktus und ihrer Melodik als gestische Musik gestaltet, und Bach arbeitet häufig mit dem Mittel der Überraschung: Arien und Chöre schliessen nahtlos an die Rezitative an bzw. führen diese bruchlos weiter, sodass sich zwar keine Oper, aber eine dramatische Erzählung ergibt. (Kein Wunder, waren Bert Brecht und Hanns Eisler von dieser Gestaltungsweise begeistert.)
Bereits 1725 führt Bach die Johannes-Passion ein zweites Mal auf; dies mit einem halben Dutzend markanter Änderungen. So ersetzte er etwa den grossen Eingangschor (erstaunlicherweise) durch einen schlichteren Choral. Spätere Aufführungen sind wahrscheinlich (aber nicht dokumentiert), gibt es doch noch zwei weitere Bearbeitungen, die die Passion wieder näher an die Fassung von 1724 zurückführen.
1739 allerdings kommt es wieder zu Turbulenzen: Der Stadtrat rügt Bach, weil dieser ohne Genehmigung auf bevorstehenden Char-Freytage eine Passion angesetzt hat; er habe die Erlaubnis abzuwarten. Der Thomaskantor reagiert höchst unwirsch: es wäre ja allemahl so gehalten worden, er frage nichts darnach, denn er hätte ohnedem nichts darvon, und wäre nur ein onus [eine Last]. Bach äussert aber auch einen Verdacht, was der wahre Grund des Vetos sein könnte: Möglicherweise missfällt dem Rat oder der religiös strenggesinnten Leipziger Geistlichkeit die Textgestaltung der Passion – konkret also die freien Dichtungen der Arien und Ariosi. Und so fügt Bach die etwas hämische Bemerkung an: wenn etwa ein Bedencken wegen des Textes gemacht werden wolle, so wäre solcher [der Text] schon ein paar mahl aufgeführet worden.
Solche Kleinlichkeiten rund um ein grosses Werk mögen uns heute amüsieren. Tatsache ist aber leider auch, dass Bach um 1739 eine Bearbeitung der Johannes-Passion begann, die möglicherweise die definitive hätte sein sollen. Ihr Autograph bricht jedoch mitten in Satz 10 ab.
* Martin Geck: Bach – Leben und Werk, Rowohlt 2000.