Ein grosser Doktor
Ich hätte wohl zu der Zeit, da ich ein Organist worden, ein grosser Doktor werden können, schrieb Michael Praetorius einmal von sich. Er war universal interessiert, nicht nur an der Musik. Für die Herzogin und für den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel war er als Hofkapellmeister, aber auch als geheimer Kammersekretär tätig, und er reiste für sie in diplomatischen Dingen an den Reichstag. Für eine solche Aufgabe musste man vertrauenswürdig und ebenso umgänglich wie umtriebig sein. Es bedurfte der Offenheit und einer raschen Auffassung. Von weither fragte man ihn deshalb um Rat.
Diese Vielseitigkeit betrifft auch sein musikalisches Wirken. Mit den Tänzen aus Terpsichore und einigen Weihnachtsliedern, die uns im Ohr nachklingen, sowie seinem dreibändigen theoretischen «Wälzer», Syntagma musicum, der als zentrale Quelle für die Aufführungspraxis um 1600 gilt, ist sein Schaffen nur grob umrissen. Praetorius war ein eigensinniger und eigenwilliger, vielgewandter und vielverwendbarer Kopf. Wenn er auch nicht bei einem grossen Meister die Orgel studierte, so machte er sich doch einen Namen auf dem Instrument. Wenn er auch nicht gründlichen Kompositionsunterricht erhielt, so brachte er sich doch alles selber bei. Schliesslich gab er zwanzig Bände mit eigenen Werken heraus. Und wenn er vermutlich auch das früh begonnene Studium in Philosophie und Theologie bald an die Wand gehangen hat, so zitierte er in seinen lateinisch verfassten Schriften doch gern aus antiken und biblischen Quellen im Original.
Viel unterwegs infolge diverser politischer und organologischer Aufgaben hat er es zeitlebens nie über die Alpen geschafft. Aber darüber, was in Italien an Wesentlichem geschah, war er dennoch bestens informiert, sicherlich auch durch Heinrich Schütz, mit dem er ab 1613 in Dresden verkehrte. Schütz hatte aus Venedig Erfahrungen in einer neuen prachtvollen Klangentfaltung mitgebracht. Vor allem Giovanni Gabrielis Symphoniae sacrae, eine Sammlung von Motetten sowie von instrumentalen Sonaten und Canzonen, waren äusserst beliebt – über alle konfessionellen Unterschiede hinweg. Praetorius, der schon zuvor durch seine farbigen und abwechslungsreichen Kompositionen aufgefallen war, studierte sie genau, denn er sah darin die Möglichkeit, dass nach dem Exempel der Italorum auch in Germana nostra patria die Musica gleich als andere Scientiae und Disciplinae […] weit aussgebreitet werden möge.
Diese Musik war auch repräsentativ, was den Herrschern gefiel, und so brachte Praetorius sie erfolgreich am Kurfürstlichen Hof in Dresden oder am Erzbischöflich-Magdeburgischen Hof in Halle zu Gehör. Der italienische Einfluss und die höfische Szenerie spiegeln sich in vielen seiner Werke, so etwa in seiner Sammlung Polyhymnia Caduceatrix & Panegyrica (Wolfenbüttel 1619). Die Besetzung dieser prunkvollen Stücke weist auf Giovanni Gabrieli zurück, beim Solennischen Friedt- und Frewden-Concert ist von bis zu 21 und auch mehr Stimmen die Rede, aufgeteilt auf sechs Chöre, mit allerhandt Musicalischen Instrumenten und MenschenStimmen / auch Trommetten und Heer-Paucken. Der Generalbass könne mit Orgeln/Regahln/Clavicymbeln, Lauten und Theorben eingerichtet werden. Eine «Riesenkiste» also, wie man heute sagen würde.
Die Sammlung Polyhymnia, aus der die Stücke dieses Konzerts stammen, enthält vierzig Choralgesänge, mit Einleitungen und Ritornellen, alles sehr vollstimmig und ausführlich gesetzt. Praetorius war sich der Besonderheit und Neuheit durchaus bewusst, und so hat er eine sehr ausführliche Gebrauchsanweisung beigefügt, eine Ordinantz: Welcher gestalt die Concert-Gesäng in dieser Polyhymnia Panegyrica, auff wenig und viel Chor, so wol Vocal- alss Instrumental- anzuordnen und zu Dirigieren. Das zeugt davon, dass er auf exemplarische Weise eine Aufführungspraxis etablieren wollte und als gewiefter Praktiker auch auf die unterschiedlichen Gegebenheiten und Ensembles vor Ort Rücksicht nahm.
Polyhymnia zeugt als Kompendium damit auch von den neuen Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung der Zeit. Mit Sorgfalt hat es Praetorius zusammengestellt, wie er überhaupt genau die Herausgabe seines Œuvres betreute, mit viel Aufwand und Geduld, denn was ich wegen des Druckens und Correctioris für Wunder, Mühe Arbeit und Unlust aussgestanden kann alhier dergestalt nicht erzehlet werden…
Thomas Meyer