Am frühen Abend des 7. Mai 1747 trifft Bach in Begleitung seines Sohnes Wilhelm Friedemann in Potsdam ein, wo sein zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel als Cembalist des Königs angestellt ist. Friedrich der Grosse (1712–1786), Staatsmann, Feldherr, Kunstmäzen, Freimaurer, begabter Komponist und Flötist, will sein abendliches Flötenkonzert beginnen, als er die Nachricht von Bachs Besuch bekommt. Sofort bricht er das Konzert mit den Worten ab: Meine Herren, der alte Bach ist gekommen. Er beordert diesen aufs Schloss und nötigt den damals schon so genannten alten Bach, seine in mehreren Zimmern des Schlosses stehenden Silbermannische Fortepiani zu probiren, wie der erste Bachbiograph J.N. Forkel berichtet. Bach improvisiert, der König mag ihm ein Thema vorgespielt haben.
Dieser denkwürdigen Begegnung zwischen dem Staatsmann und dem Thomaskantor haben wir die Entstehung des Musikalischen Opfers zu verdanken. Kaum zurück in Leipzig macht sich Bach sofort an die Arbeit, das vom König gegebene Thema in einer ordentlichen Fuga zu Papiere zu bringen, und hernach in Kupfer stechen zu lassen. Am 30. September 1747 kann, wie den Zeitungsannoncen zu entnehmen ist, das versprochene Königl. Preussische Fugen-Thema, eine Sammelmappe mit zwei Fugen, einer Triosonate und verschiedenen Canonibus zum Preis von einem Taler käuflich erworben werden, bey dem Autore, Capellmeister Bachen, als auch bey dessen beyden Herren Söhnen in Halle und Berlin.
Da der Originaldruck aus nicht nummerierten Einzel- und Doppelblättern besteht, lässt sich die von Bach beabsichtigte Reihenfolge nicht eindeutig bestimmen. Die Sammlung ist als musikalisches Kunstbuch zu verstehen, ähnlich älteren Beispielen von Johann Theile (1646–1724) oder Giovanni Battista Vitali (1644–1692). Darüber hinaus lässt sich aber im Musikalischen Opfer eine starke Beziehung zu Formelementen der Rhetorik feststellen.
Dass diese Anordnung des Werks dem Aufbau einer klassischen Rede folgt, kann bis ins Detail nachgewiesen werden. Selbstverständlich kann aber auch jeder Satz oder jedes Genre für sich betrachtet werden: Die beiden Ricercari, die verschiedenen Canones und die Triosonate repräsentieren unterschiedliche Kompositionsgattungen und zeigen einerseits, wie meisterlich Bach mit dem stilo antico, also dem kontrapunktischen Stil umgeht; andererseits kann die Triosonate als eine Huldigung an den neuen empfindsam-galanten Stil gesehen werden, der gegen Mitte des 18. Jahrhunderts rund um Friedrich den Grossen schon in Hochblüte ist. Insbesondere der dritte Satz Andante offenbart eine hoch raffinierte und fein differenzierte Ausdruckswelt, voll von Seufzerfiguren, aus dem Nichts kommenden und wieder ins Nichts verschwebenden Melodiefragmenten, teilweise nur angedeuteten Harmonien und fragiler Klanglichkeit voller Schatten und Licht.
Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta
Der auf Geheiss des Königs verfasste Gesang [die Fuge] und das Übrige [die weiteren Stücke] nach Kanonkunst ausgeführt.
Ricercar a 3: Diese dreistimmige Fuge ist möglicherweise eine Art von «Erinnerung» an Bachs Improvisation über das königliche Thema.
Thematis Regii Elaborationes Canonicae – Canones diversi super Thema Regium (Kanonische Ausarbeitungen des königlichen Themas – verschiedene Kanones über das königliche Thema).
Canon a 2, cancrizans: Krebskanon, die zweite Stimme beginnt das Thema gleichzeitig mit der ersten, aber vom Schluss her.
Canon a 2, violini in unisono: Kanon im Einklang, um einen Takt verschoben.
Canon a 2, per motum contrarium: Die zweite Stimme beginnt um einen halben Takt quartverschoben in Gegenbewegung.
Canon a 2, per augmentationem, contrario motu: Die zweite Stimme beginnt um einen halben Takt quintverschoben in Gegenbewegung und Vergrösserung.
Beischrift im Widmungsexemplar: Notulis crescentibus fortuna regis (Mit wachsenden Notenwerten wachse das Glück des Königs).
Canon a 2, per tonos: Die zweite Stimme beginnt um einen Takt und eine Quinte verschoben. Das ganze Stück moduliert über eine Oktave in Ganztonschritten.
Beischrift im Widmungsexemplar: Ascendenteque modulatione ascendat gloria regis (Und mit der aufsteigenden Modulation steige der Ruhm des Königs).
Fuga canonica in Epidiapente: Kanonische Fuge für 2 Stimmen und Basso continuo, zweiter Einsatz nach zehn Takten in der Oberquarte.
Canon perpetuus super Thema Regium: Ewiger (endloser) Kanon, Thema in der Mittelstimme, Aussenstimmen im Kanon ganztaktig um zwei Oktaven versetzt.
Canon perpetuus: Ewiger (endloser) Kanon, zwei Stimmen in Gegenbewegung um zwei Takte quintversetzt, dazu ein unabhängiger Basso continuo.
Rätselkanons – Quaerendo invenietis (Sucht und ihr werdet finden).
Canon a 2: Für die zweite Stimme sind keine Einsätze notiert. – Lösung: Einsatz der Bassstimme nach zweieinhalb Takten in der Umkehrung und Unterseptim.
Canon a 4: Wiederum sind für die zweite Stimme keine Einsätze notiert. – Lösung: Einsatz nach sieben Takten im Einklang.
Sonata Sopr’ Il Soggetto Reale: viersätzige Triosonate im italienischen, bzw. empfindsamen Berliner Stil; im zweiten Satz erklingt das unverzierte Thema regium fünfmal.
Ricercar a 6: Bei seinem Besuch improvisierte Bach angeblich eine sechstimmige Fuge über ein eigenes, jedoch nicht über das königliche Thema. Über dieses arbeitete er dann eine sechstimmige Fuge aus, die als eine Art von «Vergrösserung» des dreistimmigen Ricercars erscheint. Nach alter Praxis wurden die sechs Stimmen auf sechs verschiedenen Liniensystemen gedruckt. Am Schluss des Stücks baut Bach quasi heimlich auch seine «Signatur» b–a–c–h ein.
Jörg-Andreas Bötticher