Douce playsence
Das Konzertprogramm Douce playsence wurde für die sechs Stimmen des Ensembles Arborescence konzipiert. Es basiert auf neun Motetten von Philippe de Vitry, die auf der Grundlage der innovativen Edition des Forschungsprojekts Chanter les Motets de Philippe de Vitry an der Haute école de musique Genève (HEM) interpretiert werden.
Philippe de Vitry (1291–1361) ist heute fast nur noch ein grosser Name der Musikgeschichte, berühmt für sein Traktat Ars nova und bekannt für eine eher kleine Sammlung musikalischer und poetischer Werke, deren Zuschreibung zudem umstritten ist. Jedoch genoss diese Persönlichkeit zu ihrer Zeit einen Ruf ersten Ranges: Als Magister, Sekretär am französischen Hof, Prälat und schliesslich Bischof von Meaux verkörperte Philippe de Vitry alle mittelalterlichen Rollen eines Gelehrten. Der Mann, den Petrarca als Dichter ohnegleichen in Frankreich ansprach, war ausserdem auch mit der damals neuen musikalischen Strömung der Ars nova verbunden, zu deren bedeutendsten Theoretikern, Dichtern und Komponisten er gehörte.
Das Konzert, das sich kontinuierlich in Raum und Zeit entfaltet, ist in zwei symmetrische Abschnitte unterteilt, die die Blütezeit und das reife Alter des Komponisten widerspiegeln. Diese beiden Abschnitte werden von zwei prächtigen dithyrambischen Motetten zu vier Stimmen eingerahmt: Rex quem metrorum, gewidmet Robert von Anjou, König von Neapel und (zeitweise) Sizilien, sowie Lugentium siccentur oculi, Papst Clemens VI. gewidmet, der in Avignon residierte. Diese letzte Motette, grandios in ihrer Weite und der Komplexität ihrer Struktur, stellt die Apotheose des Konzerts dar.
Das Wort „Konzert“ im heutigen Sinne war im Mittelalter unbekannt. Niemand hätte damals daran gedacht, einem Eintritt zahlenden Publikum eine Reihe von aufeinanderfolgenden Motetten zu präsentieren. Selbst wenn diese siebenhundert Jahre alte Musik also historisch korrekt gesungen wird, führt ihre Aufführung heute zu einer zeitgenössischen Kreation. Die Entscheidung für eine A-cappella-Aufführung ist zwar historisch begründet, zielt jedoch vor allem darauf ab, das Spiel der Konsonanzen und Dissonanzen, die das Rückgrat der Polyphonie bilden, so deutlich wie möglich hörbar zu machen.
Verschiedene Facetten des Ensemblegesangs kommen während des Konzerts abwechselnd zur Geltung, vom Solo bis zum Tutti und in unterschiedlichen Stimmkombinationen, von den sanftesten bis zu den schärfsten. Die reiche und subtile Polyphonie der neun Motetten wird durch zwei einleitende Anrufungen und zwei Interludien verbunden, die von David Chappuis auf Auszüge aus Dichtungen von Philippe de Vitry komponiert wurden. Der Titel des Konzerts, Douce playsence, stammt aus dem ersten Vers des Gedichts, das sich im Triplum der Motette Garison findet: Douce playsence est d’amer loyalment. Die Motette ist eine von fünf Philippe de Vitry zugeschriebenen Motetten, deren Urheberschaft von Zeitgenossen belegt ist – und sie ist die einzige in französischer Sprache.
David Chappuis
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Stichworte zur Musik des 14. Jahrhunderts
Ars nova: In seinem gleichnamigen Traktat von 1321/23 beschreibt Philippe de Vitry eine neue Art der Musiknotation, die auch eine neue, rhythmisch raffiniertere Kompositionsweise anregte oder widerspiegelte; die Musik des 13. Jahrhunderts gilt nun als Ars antiqua (alte Kunst). Der Titel Ars nova gibt der französischen Musik des ganzen 14. Jahrhunderts ihren Namen; das umfangreichste Werk, mit Motetten, Balladen, Rondeaux und Virelais, stammt von Guillaume de Machaut, während Philippe de Vitry nur gerade ein Dutzend Motetten hinterliess. – Viele Werke im Ars nova-Stil finden sich im Codex Ivrea. Dieses Manuskript entstand möglicherweise am Hof der Päpste in Avignon oder in Ivrea (Savoyen) selbst; die Sammlung enthält nebst anderem 37 Motetten und 25 Messsätze.
Motette: Die Motette gilt als das repräsentative Genre dieser Zeit; sie ist ein sowohl literarisches wie musikalisches Kunstwerk und kann religiöse wie auch zeitpolitische Themen haben. Die Motette der Ars nova ist meist drei-, manchmal vierstimmig, und weist durchwegs drei verschiedene Text- und Musikschichten auf: Tenor, Motetus und Triplum.
Die tiefste Stimme und das Fundament der Komposition ist der Tenor (bei vierstimmigen Motetten mit einem zusätzlichen Contratenor); er singt in ruhiger Bewegung und mit zahlreichen Wiederholungen einen vorgegebenen Text-Musik-Ausschnitt, den Cantus firmus. Dieser ist musikalisch als rhythmisches Muster gestaltet (Isorhythmie) und deutet inhaltlich das Thema des Werks an.
Die mittlere Stimme ist der Motetus (daher vermutlich der Begriff Motette); sie bewegt sich in schnellerem Tempo und trägt einen neuen Text mit neuer Melodik vor; beide stammen jeweils vom gleichen Verfasser. In noch stärkerer Bewegung verläuft die dritte Stimme Triplum (auch Discantus), die ebenfalls einen eigenen Text vorträgt, der sich aber inhaltlich auf Motetus und Tenor bezieht. So entsteht ein kunstvoll-künstliches Text-Musik-Gebilde.
Publikum: Johannes de Grocheo schreibt um 1300 über die Motette: Dieser Gesang soll nicht dem Volk dargeboten werden, weil es dessen Subtilität nicht bemerkt und durch sein Anhören auch nicht ergötzt wird. Sondern man muss ihn den Gebildeten darbieten und denjenigen, welche die Feinheiten der Künste suchen. [Die Motette] pflegt bei ihren Festen zu deren Zier gesungen zu werden, wie die Cantilena bei den Festen des ungebildeten Volkes.
Le Roman de Fauvel: Eine umfangreiche Versdichtung, vermutlich aus der Zeit um 1314/17, die satirisch die Laster der Gesellschaft schildert. Der Hengst Fauvel (der Falbe) steigt zum Herrscher Frankreichs auf, und die Laster, die die Buchstaben seines Namens bezeichnen, regieren die Welt: Flaterie (Schmeichelei), Avarice (Geiz), U/Vilanie (Niederträchtigkeit), Variété (Unbeständigkeit), Envie (Neid), Lâcheté (Feigheit). – Ein besonders prachtvolles Manuskript des Werks enthält zahlreiche ein- und mehrstimmige Kompositionen, darunter auch Motetten von Philippe de Vitry.
Trecento: Gleichzeitig mit der Ars nova in Frankreich, jedoch unabhängig von ihr, erlebt im 14. Jahrhundert auch Italien eine erste Blüte der Mehrstimmigkeit; inspiriert wird sie wohl nicht zuletzt durch Dantes Dolce stile nuovo. Auch diese italienische Kompositionsweise ist eine sowohl musikalische wie literarische Kunstform. Im Vergleich mit der französischen ist sie weniger konstruktiv und wird geprägt durch eine engere Beziehung zwischen Text und Musik sowie durch eine höhere Kantabilität. Zu ihren Gattungen gehören das frühe Madrigal, die Caccia und die Ballata (Tanzlied); zu den Komponisten zählen unter anderen Francesco Landini, Jacopo da Bologna, Zacara da Teramo und Johannes Ciconia.
Zacara da Teramo
Von kleiner Statur, mit Behinderungen behaftet, insgesamt nur zehn Glieder an Händen und Füssen zusammengenommen, den linken Arm in einer Schlinge und die Füsse verkrümmt –, und doch verdanken wir diesem mysteriösen Mann, der von Beruf Meisterbuchmaler war, einige der wunderbarsten, innovativsten und seltsamsten Lieder des Spätmittelalters. Selbst fünfzig Jahre nach seinem Tod galten seine Kompositionen noch als «Orakel». Und das bezog sich nicht nur auf die komplexen Proportionen und den seltsamen Kontrapunkt seiner Musik: Sein prophetischer Ton machte auch seine Texte rätselhaft, als wolle er Dämonen oder die Unterwelt beschwören, voller Anspielungen, die nur halb verstanden wurden. Ein Verrückter, meinten einige, ein Teufelsanbeter, meinten andere. Und tatsächlich waren und sind das Leben und Werk von Zacara da Teramo eine Kuriosität.
Er hatte nicht nur mit körperlichen Behinderungen zu kämpfen, auch sein Leben war von Herausforderungen geprägt: Nach dem Verlust seiner geliebten Frau starb sein kleiner Sohn während einer gewalttätigen Revolte, und all diese Schicksalsschläge prägten sein Werk.
Das Ensemble Leones präsentiert die aussergewöhnlichen Kompositionen und Liedtexte eines einflussreichen, aber heute noch immer unterrepräsentierten Komponisten an der Schwelle zur Renaissance: Als stilistisches Vorbild für Johannes Ciconia, als Freund der Päpste und vom Schicksal gebeutelt, kommt Zacara hier voll zur Geltung.
Marc Lewon
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Zacara di Teramo wurde um 1360 als Antonio di Berardo di Andrea in der Stadt Teramo (in den Abruzzen) geboren. Wegen seiner kleinen Statur erhielt er den Übernamen Zacara – «Winzling» oder vielleicht «Dreikäsehoch» –; nicht erstaunlich also, dass der Komponist sich selbst nicht so nannte. Die Stadt Teramo war im 14. Jahrhundert für ihre Buchproduktion bekannt; es ist deshalb wahrscheinlich, dass in Zacaras Familie der Beruf von Schreibern und Buchilluminatoren ausgeübt wurde.
1390 wird Zacara erstmals in einem Dokument erwähnt, und zwar als Lehrer am Ospedale di Santo Spirito in Rom; dort soll er auch ein aufwändig gestaltetes Antiphonar anlegen, da er ein famoso camtore, scriptore et miniatore sei, also ein berühmter Sänger, Schreiber und Miniaturmaler. Im Jahr darauf wird er Sekretär (scriptor litterarum apostolicarum) am Hof von Papst Bonifaz IX. sowie Sänger in dessen Kapelle. Damals kam er vermutlich auch in Kontakt mit dem in Italien lebenden flämischen Komponisten Johannes Ciconia (ca. 1370–1412).
Manche Fakten in Zacaras Biographie können bzw. müssen aus den Texten seiner Kompositionen abgeleitet werden. So scheint es, dass er als Angehöriger des päpstlichen Hofes auch in die (kirchen-) politischen Auseinandersetzungen seiner Epoche verwickelt war; es war dies die Zeit des Schismas, in der mehrmals zwei Päpste gleichzeitig regierten. 1409 soll er sich einer Gruppe von Kardinälen angeschlossen haben, die gegen Papst Gregor XII. revoltierten. Das bedeutete natürlich sein Ausscheiden aus dessen Kapelle, und es folgte eine Zeit ohne Anstellung. Schliesslich wurde er in die Kapelle von Papst Johannes XXIII. aufgenommen, der – als Konkurrent der beiden Päpste in Avignon und Rom – als dritter (!) Papst in Pisa residierte; ein Dokument von 1412/13 nennt Zacara als Sänger seiner Kapelle. Schon 1416 erwähnen zwei weitere Dokumente jedoch seinen Tod. Möglicherweise verbrachte Zacara seine letzte Lebenszeit in Teramo, wo er – nebst einem Haus in Rom – über beträchtlichen Besitz verfügte.
Im Konzert sind Zacaras weltliche Kompositionen zu hören, viele davon mit offenen oder auch versteckten zeitkritischen Anspielungen. In seinem überlieferten Oeuvre mit rund 50 Kompositionen finden sich dazu auch zahlreiche geistliche Werke, darunter mehrere paarweise Vertonungen von Gloria und Credo.