Das hatte es noch nie gegeben: 1502 veröffentlichte der venezianische Verleger Ottaviano Petrucci – zum allerersten Mal in der Musikgeschichte – einen Druck, der nur einem einzigen Komponisten gewidmet war. Der Band Missae Josquin (auch: Missarum Josquin Liber Primus) enthielt fünf Messen von Josquin Desprez (1450/55–1521). Er war so erfolgreich, dass Petrucci ihm zwei weitere Bände mit Josquins Messen folgen liess –, dies in einer Zeit, als Musikdrucke sehr kostspielig waren. Damit war Josquin der vielleicht erfolgreichste und populärste Komponist seiner Zeit; in unzähligen Manuskripten finden sich seine Kompositionen – darunter auch manche, die gar nicht von ihm stammen und aus kommerziellen Gründen für die seinen ausgegeben wurden.
Trotz dieses Ruhms schon zu Lebzeiten ist vieles in Josquins Biographie unbekannt oder ungewiss. Geboren wird er im Hainaut/Hennegau; die Region liegt heute im belgisch-französischen Grenzgebiet. Josquins Geburtsjahr ist unbekannt und wird um 1450 bis 1455 angesetzt. Um 1460 könnte er Sängerknabe an der Basilika von Cambrai gewesen sein, später vielleicht Schüler von Johannes Ockeghem. Um 1466 setzen sein Onkel Gille Lebloitte dit Desprez und seine Tante Jacque Banestonne den Knaben als ihren Erben ein.
In den 1470er Jahren beginnt Josquins bewegte Musikkarriere: Er ist Sänger der Kapelle des Herzogs von Anjou in Aix-en-Provence, später tritt er in den Dienst von König Ludwig XI. und/oder von der in Mailand regierenden Sforza-Familie, dann ist er bis 1494/95 Mitglied der renommierten päpstlichen Kapelle in Rom. (1998 wurde bei Restaurationsarbeiten in der Sixtinischen Kapelle der Name JOSQUINJ eingeritzt in die Wand der Sängerkanzel entdeckt.)
Nach einem Aufenthalt in Frankreich tritt der Komponist 1503 in den Dienst von Herzog Ercole I. d’Este in Ferrara. Dem Engagement geht eine aufschlussreiche Episode voraus. Der Herzog lässt damals zwei Agenten («Headhunters») nach einem neuen Kapellmeister suchen. Zwei Komponisten kommen schliesslich in Frage, Heinrich Isaac und Josquin. Einer der beiden Agenten berichtet dem Herzog: (Isaac ist) sehr schnell in der Kunst der Komposition; im übrigen ist er gutartig und umgänglich. … Mir scheint er gut geeignet, Euer Gnaden zu dienen, besser als Josquin, weil er (Isaac) zu seinen Musikern von liebenswürdigerem Wesen ist und öfter neue Werke komponieren will. Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet, und er verlangt 200 Dukaten, während Isaac für 120 kommen will …
1504 bricht in Ferrara bricht die Pest aus, der Hof verlässt die Stadt, Josquin gibt seine Stelle als Kapellmeister auf. (Sein Nachfolger wird Jacob Obrecht, der dann schon 1505 an der Pest stirbt.) Danach folgt der lange letzte Lebensabschnitt des Komponisten: Monsieur le prevost messire Josse des Pres wird im nordfranzösischen Condé-sur-l’Escaut Probst der Kollegiatskirche Notre-Dame. Als Probst ist Josquin hoher kirchlicher und weltlicher Beamter mit Haus- und Grundbesitz; er leitet eine der damals grössten Musikkapellen Frankreichs mit bis zu 22 Sängern. Kurz vor seinem Tod vermacht er seinen Besitz der Kollegiatskirche und verbindet damit den Wunsch, dass bei jeder kirchlichen Prozession durch die Stadt vor seinem Haus seine Motette Pater noster – Ave Maria gesungen werde. Josquin stirbt am 27. August 1521.
Im Zentrum von Josquins Werk steht die Vertonung des Messordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus/Benedictus und Agnus Dei). 18 oder je nach Zählung 19 solcher Messvertonungen hat er geschaffen, und ähnlich wie bei Beethovens Sinfonien sind diese Vertonungen höchst unterschiedlich-individuell – tatsächlich so unterschiedlich, dass Josquins Autorschaft bei der einen und anderen Messe gelegentlich auch angezweifelt wurde.
Unter den fünf Messen in Petruccis erstem Druck, Missae Josquin, findet sich auch die Missa Fortuna desperata. Sie beruht auf dem gleichnamigen italienischen Lied, das das rätselhafte Wirken der Glücksgöttin Fortuna anklagt: Ruf und Ehre einer noblen Dame wurden ohne jeden ersichtlichen Grund in den Schmutz gezogen –, ein Schicksalsschlag, der damals den sozialen Tod bedeutete.
Trotz oder vielleicht gerade wegen seines fatalistischen Weltbilds war dieses melancholische Lied zu Josquins Zeit sehr populär. (Mehr dazu im Kommentar zum Konzert 16.30h, Seite 11.)
Dies allerdings nicht ohne musikalischen Grund: Seine Melodik ist sehr eingängig und schnell wiedererkennbar. So wird auch gut hörbar, wie Josquin in seiner Missa Fortuna desperata damit kompositorisch verfährt – und auch dieses Verfahren war damals erstmalig. Die meisten Titel der im 15. Jahrhundert entstandenen Messen verweisen ja auf den Cantus firmus, auf das Musikfragment, das der Komponist als «Baugerüst» seiner Komposition verwendet. Besonders häufig diente als Cantus firmus damals etwa das Lied L’homme armé; Josquin selbst verwendet es in gleich zwei Messen, die sich beide ebenfalls im Band Missae Josquin finden.
Ganz anders in der Missa Fortuna desperata: Hier verwendet der Komponist den Anfangsteil des ganzen Liedes – man möchte sagen: tel quel – als Anfang von allen fünf Sätzen der Messe. «Tel quel» stimmt aber natürlich nicht ganz. Josquin paraphrasiert das originale Lied jeweils kunstvoll, aber stets so, dass vor allem der doppelte Anruf Fortuna, fortuna desperata auch mit dem religiösen Text melodisch deutlich erkennbar bleibt. Nach diesem verblüffenden Anfang prägen weitere Motive, raffinierte Kanones sowie vor allem die charakteristische Harmonik des Liedes die Messkomposition durchwegs. Diese wird so zu einer Art von «musikalischer Fantasie» über Fortuna desperata.
Wir mögen uns heute vielleicht etwas verwundert fragen, was denn ein weltliches Lied über verlorene Ehre in religiöser Musik zu suchen hat. Aber vielleicht liegt in dieser Frage auch schon die Antwort: Vielleicht fragt Josquins Messe möglicherweise genau nach dem so rätselhaften Zusammenhang zwischen persönlichem Leid, sozialem Schicksal und den Aussagen des christlichen Glaubens.