Doug Balliett: Anmerkung zu meinen Ovid-Kantaten
Als ich zum ersten Mal Ovids Metamorphosen las, überraschte mich die formale Kühnheit dieser Gedichte. All die Geschichten über Verwandlungen verwandelten sich ineinander, aus Geschichten sprudelten andere Geschichten hervor, die ihrerseits Geschichten bargen … Etwas an dieser wunderbaren Form verlockte mich zu einer Kantate oder vielmehr zu einer Anzahl ineinander verschachtelter Kantaten, die sich mit dem immer weiter ausgreifenden Bogen der Gedichte mitentwickeln sollten.
Bei Ovid gibt es eindeutig erzählende und eindeutig gesangliche Momente, was bestens zur Abfolge von Rezitativen und Arien in einer Kantate passt. Ausschlaggebend war bei mir jedoch nicht Barockmusik, sondern eine Progressive-Rock-Band, die ich in New York City hörte und in deren Musik die Texturen völlig zwanglos wechselten, was mich dazu inspirierte, mit diesen Geschichten etwas Ähnliches zu versuchen.
Mit der Spoken-Word-Kantatenform experimentierte ich erstmals als Student in der neugegründeten Abteilung «Historische Aufführungspraxis» der Juilliard School, einer Abteilung, an der ich heute unterrichte. Im Lauf der Zeit stellte ich fest, dass die Idee, einen Text von Ovid als Kantate umzusetzen, etwas sehr Barockes war. Es gibt Dutzende solcher Kantaten aus allen Ecken Europas, Minidramen, die wie Taschenopern wirken.
In diesem Konzert stellen wir zwei Kantaten aus meinem Ovid-Zyklus zwei französischen Barockkantaten gegenüber, die dieselben Geschichten erzählen. Es sind dies zwei der populärsten und langlebigsten Geschichten: diejenige des Jägers Actaeon und des Liebespaars Pyramus und Thisbe. Französische Komponisten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten eine besonders grosse Vorliebe für Ovid. Und so wie Clérambault und Boismortier liess auch ich mich von diesen wunderbaren Gedichten inspirieren. Für die Umsetzung habe ich ein Ensemble von Freundinnen und Freunden zusammengestellt, die sich bestens auskennen in barocker Musik, die aber auch mit meiner Musiksprache vertraut sind.
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Joseph Bodin de Boismortier (1689–1755) gilt als Vielschreiber auch in einer Epoche, in der alle Komponisten – Bach, Händel, Telemann, Vivaldi – viel schrieben. So publizierte Boismortier zwischen 1724 und 1747 mehr als hundert Werksammlungen mit Kammermusik im galanten Stil für das häusliche Musizieren. Dabei wurde ihm die Musik nicht in die Wiege gelegt: Sein Vater war in Metz Konditor, und der junge Joseph – obwohl schon in frühen Jahren auch als Musiker tätig – erhielt seine erste Stelle in Perpignan als receveur des tabacs en Roussillon, mit der Aufgabe, die Abgabe von Tabak an die dort stationierten Regimenter zu überwachen. Doch schliesslich konnte sich Boismortier in Paris als Musiker etablieren und seine Verwaltungsstelle kündigen. Neben der schon erwähnten Hausmusik schrieb er auch ambitioniertere Werke, darunter kirchliche Musik und die Opern Les Voyages de L’Amour, Don Quixote und Daphnis et Cloé. Seine Karriere machte ihn so wohlhabend, dass er sich 1753 auf sein Landgut zurückziehen konnte.
Anders als sein Kollege Boismortier wurde Louis-Nicolas Clérambault (1676–1749) sozusagen schon als Musiker geboren: Der Sohn eines Violinisten am Hofe Ludwigs XIV. lernte bereits in früher Jugend das Spiel auf Violine, Cembalo und Orgel. Auch Kompositionsunterricht gehörte zu seiner Ausbildung, und ein erstes Werk soll Clérambault bereits mit dreizehn Jahren geschrieben haben. Im Laufe eines sehr aktiven Lebens hatte er mehrere Stellen inne, so am königlichen Hof, am aristokratischen Pensionat Saint-Cyr oder an der Kirche Saint-Sulpice.
Wie ein roter Faden zieht sich durch sein kompositorisches Werk das Genre der Kantate. 1710 erschien ein erstes Buch mit Cantates françoises, à I. et II. voix. Avec simphonie, et sans simphonie (Kantaten für eine und zwei Stimmen, mit und ohne Instrumentalbegleitung); diesem ersten Buch sollten bis 1726 vier weitere Bücher folgen. Die Kantate Pirâme et Tisbé stammt aus dem zweiten Buch von 1713; so wie dieses Werk gestalten viele Kantaten Themen der antiken Mythologie in einer Art von Miniaturoper.
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Die Instrumentalmusik:
Élisabeth Jacquet / Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre (1665–1729) war ein Wunderkind, trat schon in jungen Jahren als Cembalistin auf und genoss die Protektion des königlichen Hofes. Nach ihrer Heirat mit dem Organisten Marin de la Guerre war sie in Paris tätig und schrieb ein vielfältiges Werk, darunter geistliche Kantaten, Cembalo- und Kammermusik, vor allem aber auch die erste Oper einer französischen Komponistin. Die Trio-Sonate g-Moll stammt aus einer Sammlung von 1695.
Marin Marais (1656–1728) war Kammermusiker von Louis XIV. und – neben Antoine Forqueray – der hervorragendste Virtuose seiner Zeit auf der Bassgambe. Für diese komponierte er fünf Bücher mit mehreren Hundert Einzelstücken, in denen sich das Ausdrucksspektrum immer mehr erweitert, dies v.a. auch, weil an die Stelle der traditionellen Tanzsätze häufig das Charakterstück tritt. Le Labyrinthe ist eines von Marais’ kühnsten Stücken, eine verwirrende Wanderung durch einen «Irrgarten» von harmonisch unerwarteten Wendungen, bis schliesslich eine Chaconne wieder Sicherheit herstellt.
Benjamin Britten (1913–1976), Komponist eines vielfältigen Werks, interessierte sich nicht zuletzt für Alte Musik, insbesondere von Henry Purcell, sowie für die Mythen der griechischen und römischen Antike. In diesen Umkreis gehören auch die Six Metamorphoses after Ovid op. 49 für Oboe solo, in denen Britten sechs griechische Mythen in Musik umsetzt. Der Zyklus sollte beim Aldeburgh Festival 1951 im Freien auf einem Boot uraufgeführt werden. Beim ersten Versuch wirbelte ein Windstoss die Notenblätter jedoch ins Wasser, sodass sie zuerst wieder herausgefischt und getrocknet werden mussten.