Flieht den Exzess! Die Italiener mögen sein eitle Verfasser von solchem falschen Schein!
(Nicolas Boileau)
Die Italiener stellen die Leidenschaften und Regungen der Seele und des Geistes so stark wie möglich dar […], so dass man meinen könnte, sie würden selbst die Regungen empfinden, die sie im Gesang wiedergeben. Unsere Franzosen dagegen begnügen sich damit, dem Ohr zu schmeicheln und in ihrem Gesang eine anhaltende Sanftheit zu pflegen.
(Marin Mersenne)
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Natürlich könnten wir heute polemisch-hämische Bemerkungen, wie sie sich in den beiden Zitaten finden, etwas amüsiert belächeln. Dennoch sind sie nicht ganz ohne «Erkenntnisgewinn». Der Literat Nicolas Boileau (1636–1711), Verfasser einer umfangreichen L’Art poétique, und der Universalgelehrte Marin Mersenne (1588–1648), Verfasser einer musiktheoretischen Harmonie universelle – sie charakterisieren mit ihren Anmerkungen zur französischen Musik das wichtigste musikalische Genre ihrer Zeit, das Air de cour, durchaus. Und das, obwohl das Genre in sich selbst wiederum sehr vielfältig ist. Aus der mehrstimmigen Chanson der Renaissance entwickelt sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich ein Strophenlied für zwei bis vier Stimmen, bald auch für eine Solostimme mit Begleitung, oft mit Laute. An erster Stelle steht dabei der Text, den es inhaltlich adäquat und sprachlich korrekt in Musik zu setzen gilt. Je nach Thema entstehen vielfältige Varianten: Air sérieux, Air tendre, Air à boire, Air spirituel, Air galant oder Air de ballet. Form und Textur bleiben stets einfach, doch sind Wiederholungen (Doubles) zu verzieren.
Wie populär dieses Genre im 17. Jahrhundert wurde, zeigt sich daran, dass allein zwischen 1608 und 1615 im Verlagshaus Le Roy&Ballard sechs Bände mit Airs de différents autheurs mis au luth par G. Bataille erschienen, mehrstimmige Lieder verschiedener Komponisten arrangiert für Singstimme und Laute. Der Lautenist und Komponist Gabriel Bataille (1575–1630) stammte aus Brie, war in Paris als Sekretär tätig, bevor er eine Anstellung als Maître de musique im Haus von Königin Anne d’Autriche, der Gattin Ludwigs XIII., fand. Diese Anstellung teilte er sich halbjährlich mit seinem Freund Antoine Boësset; zusammen mit Pierre Guédron, der unter den différents autheurs einen prominenten Platz einnimmt, gehören Bataille und Boësset zu den produktivsten Komponisten des Air de cour in dieser Zeit.
Eine zentrale Position im damaligen Musikleben hatte Michel Lambert (1610–1696), als Lautenist, Tänzer und Komponist, und vielleicht noch mehr als Gesangs- und Tanzlehrer am Hof von Ludwig XIV. 1661 wurde Lambert Maître de musique de la chambre du roi, und im Jahr danach heiratete seine Tochter Madeleine Jean-Baptiste Lully (1632–1687). Da Lully seinerseits allmächtiger Surintendant am königlichen Hof war, beherrschten die beiden Komponisten dessen Musikleben praktisch uneingeschränkt. Sie prägten einerseits auch den wortbetonten Stil der neuen französischen tragédie lyrique, räumten andererseits aber dem Ballett darin einen zentralen Platz ein. Unter anderem komponierte Lambert rund 300 Airs de cour. Heute sind vor allem auch seine Leçons de ténèbres vielbeachtet.
Die Zeit des Air de cour ist auch die Zeit der französischen Lautenmusik. Neben den früheren Komponisten der Familie Gaultier und neben dem späteren Robert de Visée ist Charles Hurel (um 1665/92) eine zentrale, aber etwas schattenhafte Persönlichkeit. Der Musiker stammte aus einer Pariser Familie von luthiers, scheint aber als einziger von ihnen auch Komponist gewesen zu sein. In den 1670er Jahren veröffentlicht er den Band Tablature de luth et de théorbe; 1684 wird er als Officier ordinaire de l‘Académie de musique sowie als Lautenlehrer erwähnt. Namentlich bekannt sind einige seiner (adligen) Schülerinnen, so eine Mademoiselle de Lionne. Ihr ist seine Gavotte La Lionne gewidmet.
Auch das Geburtsdatum und die Herkunft von Robert de Visée (ca. 1655–1732/33) liegen im Dunkeln. Um 1680 wird er musicien de chambre am Hof von Louis XIV.; Jean-Jacques Rousseau berichtet in einem Brief 1688, Visée sei in Versailles ein angesehener Musiker.
1719 wird der Komponist zum Maître de guitare du roi (Louis XV.) ernannt. Tatsächlich scheint vorerst die Gitarre – und nicht die Laute – für den Komponisten wichtig gewesen zu sein: 1682 veröffentlicht er in Paris ein Livre de guitare dédié au roi und 1686 ein Livre de pièces pour la guitare, beide mit kürzeren und längeren Suiten von barocken Tanzsätzen. Erst 1716 folgt dann ein Buch mit Pièces de théorbe et de luth; allerdings enthält das Saizenay-Manuskript (Besançon) weitere zahlreiche Einzelstücke für Laute, darunter auch die Ouverture de La Grotte de Versailles (de Lully), eine Bearbeitung der Ouvertüre von Lullys gleichnamigem szenischem Stück. Das letzte Salär wird dem Komponisten 1732 ausbezahlt, vermutlich ist er dementsprechend im selben Jahr gestorben.
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Das Konzert erlaubt es, die angeblich so dezent dem Ohr schmeichelnde Musik aus Frankreich mit der angeblich so überemotionalen Musik aus Italien zu vergleichen. In der Minikantate Eraclito amoroso von Barbara Strozzi (1619-1677) fällt allerdings ins Ohr, dass die Komponistin diesen Klagegesang einer verlassenen Geliebten nicht etwa im Charakter eines emotional hochgeladenen Ariosos frei gestaltet, sondern mit einem Basso ostinato stark strukturiert.