Steil war die Karriere und tief der Fall: Johann Rosenmüller (1619–1684), in Oelsnitz (Sachsen) geboren, studiert Theologie an der Universität in Leipzig, wird als Lehrer (Collaborator) an die Thomasschule engagiert, ist schon ab 1640 Stellvertreter des Thomaskantors Tobias Michael sowie ab 1651 auch Organist an der Nikolai- und Thomaskirche. Heinrich Schütz fördert den jungen Komponisten, eine Reise nach Venedig wird 1645 ebenfalls möglich, und im gleichen Jahr erscheint auch schon Rosenmüllers erste Publikation mit Paduanen, Alemanden, Couranten, Balletten, Sarabanden. Bereits 1653 wird dem jungen Musiker auch das Amt des Thomaskantors in Aussicht gestellt.
Doch im Mai 1655 wird Rosenmüller plötzlich inhaftiert und seiner Ämter enthoben. Die Beschuldigung: homosexuelle Kontakte, strafbar damals auch bei einvernehmlichen Beziehungen. Der Fall ist bis heute nicht geklärt – die Quellen sind allzu wortkarg –, aber gemäss einem Schreiben des Leipziger Stadtrats werden nebst Rosenmüller selbst anscheinend auch einige Thomasschüler verdächtigt: Rosenmüller werde per publicam famam [durch Gerüchte] grober Excesse bezüchtiget, es seien aber so wohl auch etliche Schulknaben in der Schule zu S. Thomas desuper [darüber hinaus] in Verdacht gezogen worden. Aus dem Kontext scheint hervorzugehen, dass die verdächtigten Schüler (Schulknaben) der Thomasschule erwachsen waren.
Noch bevor es zu einer Untersuchung kommt, flieht Rosenmüller über Hamburg nach Italien. Er lässt sich schliesslich in Venedig nieder, und dort beginnt für ihn eine erstaunliche zweite Karriere: Er wird Posaunist an San Marco, ist eine Zeit lang Kapellmeister am Ospedale della Pietà (wo später Antonio Vivaldi wirkt), und hat auch als Komponist, nun unter dem Namen Giovanni Rosenmiller, zunehmend Erfolg. Die Kontakte nach Deutschland brechen – etwas erstaunlich – ebenfalls nicht ganz ab: Rosenmüller liefert Musikalien nach Weimar, er unterrichtet J.Ph. Krieger und 1682 wird er schliesslich als Hofkapellmeister an den Hof des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel engagiert – die Vergangenheit scheint nun keine Rolle mehr gespielt zu haben, Rosenmüller gilt wieder als Alpha & Omega Musicorum. Noch bevor er jedoch die geplante Reorganisation der herzoglichen Hofkapelle vornehmen kann, stirbt der Komponist 1684.
Johann Rosenmüller schreibt ein umfangreiches Werk; vier Sammlungen von Instrumentalmusik erscheinen je zu zweit in Deutschland und in Italien. Allerdings dominieren in seinem Schaffen die zahlreichen Vokalwerke. Darunter finden sich Geistliche Konzerte (eine Form der frühbarocken Kantate sowohl deutsch wie lateinisch), Dialoge und Kernsprüche, ganze Messen und einzelne Messsätze (im alten mehrstimmigen Stil), vor allem aber zahlreiche Psalmvertonungen: Die meistverwendeten Vesperpsalmen – die auch im Konzert zu hören sind – existieren in (manchmal bis zu vier oder fünf) verschiedenen Vertonungen. Dabei komponiert Rosenmüller – ähnlich wie der ältere Heinrich Schütz – aus einem doppelten Hintergrund heraus: Er wächst im protestantischen Deutschland auf und ist in der deutschen Tradition der Mehrstimmigkeit verwurzelt; andererseits orientiert er sich aber schon früh an der modernen klangsinnlichen (und katholischen) Musik Italiens, die auf eine rhetorisch-bildhafte Darstellung des Textes zielt.
Dazu einige Beispiele: Der Psalm De profundis beginnt statisch und ganz wörtlich «aus der Tiefe», um dann bei Ad te clamavi (zu dir habe ich gerufen) in die Höhe zu springen. In Dixit Dominus erhält die Passage dominare in medio inimicorum tuorum (herrsche inmitten deiner Feinde) mit punktiertem Rhythmus und voller Besetzung eine agressiv hervortretende Klanglichkeit, während im Psalm Confitebor tibi die Passage sanctum et terribile (heilig und furchterregend) als eigentliche Kriegsmusik ertönt. Und noch Laudate Dominum: Die Aufforderung laudate (lobt) erklingt melismatisch-polyphon (lange Melodien in den verschiedenen Stimmen), bei omnes gentes (alle Völker) stimmen Alle im Einklang mit ein. – Solche musikalischen Mittel mögen uns heute manchmal als etwas plakativ erscheinen, aber sie ermöglichen es schon beim ersten Hören, die textlich-musikalische Aussage der Komposition nachzuvollziehen.